Archiv 2016

MICHY REINCKE

INTERPRET: MICHY REINCKE
ALBUM: SIE HABEN DEN FALSCHEN
VÖ: 03.06.2016    (DE/AT/CH)
LABEL: RINTINTIN MUSIK
LABELCODE: 10565
VERTRIEB: INDIGO / BELIEVE DIGITAL

Mit dem letzten Album seiner Trilogie gelingt Michy Reincke der große Wurf.

„Sie haben den Falschen“ ist prall gefüllt mit außergewöhnlich starken, charaktervollen Songs. Durch seine lebenskluge und nahrhafte Text-Arbeit, den Liebesliedern, Tragödien, seinem Humor und der Gesellschaftskritik hat er seit Jahren schon rein qualitativ ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Popmusik inne.
Diesmal überzeugt Michy Reincke zusätzlich als Produzent eines exquisiten Werkes das in Andalusien entstanden ist. Statt Flamenco geht es allerdings bisweilen sehr funky und auffallend druckvoll zur Sache: Bariton-Saxophone, D6-Clavinet - berühmt geworden durch Stevie Wonders „Superstition“ - und Wah-Wah-Gitarren kommen zum Einsatz sowie Rhythmus-Elemente mit Prince-Zitaten.

Das Alkoholiker-Drama „Noah“ und das Orchester-Stück „Die Frau in der die Welt verschwand“ berühren durch ihre inhaltliche Kraft und feinen Instrumentierungen.
Beim Gesamteindruck dominieren mit „Glücklich glücklich“, „Sie ist ganz genau mein Typ“, „Wir zertanzen die Fundamente“, „Ozean“ und „Wenn du gehst komm ich mit“ jedoch die lebensbejahenden Lieder.
Eingängige Melodien, leichte und eindringliche Momente, eine bunte Mischung verschiedener Stilistiken und die frische Ästhetik des angenehm  kategorisierungsresistenten Klangforschers verbinden sich auf „Sie haben den Falschen“ zu einem harmonischen Ganzen.

Ein nicht unwesentlicher Tenor bleibt auch auf diesem Werk die Kulturkritik.
Das sich „fremd und falsch fühlen“ in der eigenen Existenz und der Mangel an Spiritualität. Verdeutlicht hat Michy Reincke dies bereits sowohl in seinen Songs als auch den dazu gewählten Cover-Grafiken - u.a. kniend vor einer Treppe - auf „Der Name kommt mir nicht bekannt vor“ oder auf einem Ufo sitzend auf „Hatte ich dich nicht gebeten im Auto zu warten“. „Sie haben den Falschen“ komplettiert die Reihe.
Den Begriff des „Kulturpessimisten“ lässt Michy Reincke jedoch nicht gelten:

„Ich bin ganz bestimmt kein Schwarzseher, aber ich lasse gern – auch in meiner eigenen Kontroverse – offen, was lustiger und was tragischer ist:
Mein Pessimismus oder mein Optimismus. Ich bin mit meinen Worten eigentlich nur auf der Suche nach Wahrheit und Schönheit.“

Reincke spannt auf seinem neuen Album einen Bogen in drei Parabeln („Ozean“, „Noah“, „Gestrandet“), die konzeptuell in nautischen Bilderwelten über das Album verteilt sind.

Beim Opener Ozean geht es um die Fülle der Möglich- und Einzigartigkeiten. Um die innere Substanz, die einen das Wesentliche sehen lässt und darum, dass Leben niemals selbstverständlich sein darf.
Wie das Meer der vergangenen Tage, der Erinnerungen ansteigt und zwischen Alltagstrümmern die Lebendigkeit, die Schönheit, die Unwiederholbarkeit und die Größe verlorenzugehen drohen, wenn die Fähigkeit sich selbst zu überraschen und eigenständig zu denken und handeln schwindet.

Noah beschreibt das aus dem Ruder gelaufene Leben eines Alkoholkranken.
In einem Wirbel aus Bildern zeichnet Reincke das Schicksal eines Schiffbrüchigen nach, welches offensichtlich das Leben seines Vaters widerspiegelt, das er gleichzeitig mit der Ähnlichkeit der zerstörerischen Seite unserer Kultur vergleicht, wie sich auf einer Zitat-Seite des CD-Booklets nachlesen lässt.

Gestrandet ist der 12. und letzte Titel des Albums. Die sommerleichte Komposition mit typisch humorvollem Reincke-Text ist der Monolog eines von seiner Partnerin Verlassenen, der sich seine Situation vor der Foto-Strand-Tapete in der gemeinsamen Wohnung schönredet. Bis ihm in seiner Einsamkeit die Attrappe der Wirklichkeit schließlich doch bewusst wird und er im Ausklang vergeblich fluchend die Tapete von der Wand zu lösen versucht. Wie eine chaplineske Schluss-Metapher: Die Realität als schwer auszubessernder Irrtum. Man lacht und schluckt zugleich.

In den letzten 6 ½ Jahren hat Michy Reincke in eigener Regie und unabhängig von der Einflussnahme und wirtschaftlichen Potenz der Unterhaltungsfirmen 5 Alben komponiert, getextet, arrangiert, produziert und mit seinem Label Rintintin Musik veröffentlicht.  
In all diesen Bereichen selbstbestimmt handeln zu können ist Michy Reincke wichtig und macht ihn zu einem wohltuenden Beispiel für den musikalischen Reichtum abseits des Konzern-Mainstreams.

Dieser Mann ist ein weißer Elefant, wird mit zunehmendem Alter immer besser und wer auch immer den Falschen hat - der Albumtitel ist inspiriert durch eine Zeile seines Songs „Du hier so“, in dem es um einen lebenserfüllenden Wert geht - Michy Reincke ist der Richtige.


INTERVIEW

1
„Sie haben den Falschen“ – wieder ein nicht gleich einleuchtender Titel. Das Adjektiv „falsch“ und das Substantiv „Der Falsche“ kommen auf ihrem aktuellen Album häufiger vor. Sie stellen mehrfach den Wert der  herrschenden Lebensart infrage. Auch wenn die Diskussion darüber berechtigt sein sollte - ist das nicht etwas zu sperrig für Popmusik?“

„Es ist mir durchaus bewusst, dass es nicht zwingend die Aufgabe von Popmusikern ist die Welt zu erklären - dafür haben wir ja genug andere Experten – aber mir ist populäre Musik nie nur als Unterhaltung begegnet.
Meine Helden waren immer kluge Frauen und Männer die sich und ihre Existenz als Künstler ernst- und wahrgenommen haben, die etwas rauskriegten, für eine sinnstiftende Perspektive sorgten und für etwas einstanden. Menschen mit einer Haltung. In dieser Tradition schreibe ich als Erwachsener Songs.
Trotzdem sind mir Leichtigkeit und Humor schon sehr wichtig. Die Titel meiner letzten drei Alben könnten beispielsweise auch Sätze aus einer Kriminal-Komödie sein und auf den aktuellen Cover-Fotos verwandle ich mich in eine Art Clint Eastwood auf der Flucht. Außerdem glaube ich ausgleichenderweise und belegbar einen größeren Mut zur Albernheit zu haben als viele andere.
Aber zum Glück der Fülle gehören für mich sowohl auch das Bewusstsein der Abgründigkeit wie die Kritik an einem Mangel an Tiefe und Essentiellem...

Der große deutsche Kabarettist Hanns Dieter Hüsch hat einmal auf die Frage nach seinem künstlerischen Ansatz geantwortet, es sei der lebenslängliche Versuch dem Menschen auf unterhaltsame Weise behutsam klarzumachen, dass er sterben muss. Das scheint mir für jemanden der sein Publikum zum Lachen brachte auch nicht gerade als Beleg für einen Schenkelklopfer.“

Ich glaube daher nicht, dass meine Arbeit zu sperrig oder rätselhaft ist. Es bliebe nur für die ein Rätsel, die nicht ähnliche Dinge wie ich empfunden haben. Und da mein Leben nicht so unterschiedlich ist von dem Leben der meisten Menschen, denke ich nicht, dass das besonders viele sind.“

2
„Ihre neue CD ist sehr abwechslungsreich. Sowohl die stilistische Vielfalt als auch Ihr textlicher Themenpark reichen von himmelhochjauchzend bis zu sehr traurig und manchmal frustriert. Sie schütteln den Hörer ganz schön durch.“

„Vielen Dank, ich empfinde das als Kompliment. Sie haben vielleicht Recht, dass mein Wunsch nach Auseinandersetzung etwas fordernd und anspruchsvoll ist, aber ich hoffe durch eine gewisse Lässigkeit in Wort und Ton jedem offen zu lassen wie tief er in die Sache einsteigen möchte.
Mein Ideal ist gleichermaßen der Hörer, der mit einem Glas Wein abends die Texte im Booklet mitliest wie derjenige, der auf dem Weg zur oder von der Arbeit im Auto die Lieder mitsingt oder im Konzert mittanzt.
Ich halte mich selbst für einen glücklichen und fröhlichen Menschen, der nicht übermäßig grübelt, aber das liegt vielleicht auch daran, dass weder Frustration noch Traurigkeit für mich etwas Böses ist, das unbedingt vermieden werden sollte. Beides trägt zur Entfaltung von Fähigkeiten bei die zu jeder Entwicklung gehören und der Versuch ihrer bewussten Vermeidung würde einen Menschen nur unfertig zurücklassen.
Mein Ziel ist es mit meinen Liedern eine Welt zu schaffen, die den Menschen willkommen heißt, ihn aber nicht beschwindelt.“

3
„Sie setzen sich seit vielen Jahren für den Popmusik-Nachwuchs ein, auf Ihrem eigenen Label und mit der Veranstaltungsreihe Lausch Lounge. Was raten Sie den jüngeren Musiker-Kollegen?

„Allgemeine Ratschläge gibt es leider nicht, wir haben uns immer nur darauf verstanden das vorhandene Talent zu fördern und den Musikern ein Forum zu bieten.
In meiner Lebenszeit haben sich die Möglichkeiten einen Platz in der Popkultur zu finden stark verändert. Statt vieler Schallplattenfirmen gibt es nur noch drei große Konzerne die ihre Strukturen von einem breit aufgestellten Repertoire auf ein extrem monochromes Format herunter-gebrochen haben. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit der Programmatik der privaten Radio-Sender – die im Übrigen von den gemeinschaftseigenen Radio-Medien kopiert wird – und in erster Linie nur noch Hitparaden-Produkte bevorzugt die Reklame untermalen, was dazu führt, dass der Großteil der Unterstützung weniger den künstlerisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen zukommt als dem Typus des Unterhaltungs-Dienstleisters.
Trotzdem haben wir sowohl mit der Lausch Lounge – die Gruppe Boy, Cäthe und Johannes Oerding sind nur ein paar Namen, die wir erstmalig präsentierten und unterstützten – als auch auf unserem Label Rintintin Musik z.B. mit Anna Depenbusch und den Weltmusik-Preisträgern Fjarill einigen Künstlerinnen auf den Weg helfen können.“

4
„Was liegt Ihnen als Musiker mehr am Herzen: Die Arbeit im Studio oder das Live-Spielen?

„Ich vergleiche die Produktion eines Albums immer gern mit der Herstellung eines Films. Dabei bin ich als Autor, Produzent, Arrangeur und Sänger gleichzeitig für das Buch, die Regie, den Schnitt und für die Hauptrolle verantwortlich. Man wird sich den Film vielleicht öfter und nach langer Zeit noch einmal ansehen und daher ist es mein Bestreben musikalisch und textlich einen Eindruck zu hinterlassen der möglichst präzise und zeitlos ist und trotzdem seinen lebendigen Charme behält.
Am Abend auf der Bühne zu stehen und in direktem Kontakt zu den Publikumsreaktionen seine Musik zu spielen erinnert dann eher an eine Theateraufführung. Diese Momente sind nicht reproduzierbar und ich habe das große Glück mit meinen Freunden, die durchweg phantastische Musiker sind, etwas zu kreieren das in seiner Einmaligkeit für immer dort bleibt, mit allen großartigen Momenten oder lustigen Ausrutschern. Ich nenne es Sandburgen vor die Flut bauen. Daher wird es auch nie ein Live-Album von mir geben. Die Arbeit im Studio über einen langen Zeitraum ist sicher anstrengender aber sie liegt mir genauso am Herzen.“

5
„Gibt es eine inhaltliche Quintessenz, vielleicht einen Satz, der Ihre Trilogie beschreibt?“

„Durchs Leben gehen wie das Leben es sich von einem wünscht.
Entscheidend ist nicht, wie grau oder unbequem das Leben für einen zu sein scheint, sondern entscheidend ist, dass man lebt und zwar mit so viel Mut, Freude und Stil wie möglich.“

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